Im Jahr 1988 machten Jäger eine unglaubliche Entdeckung in den dichten Wäldern an der Grenze zwischen Bosnien und Herzegowina, Montenegro und Serbien. Inmitten eines Wolfsrudels bewegte sich ein Junge auf allen Vieren, sein Körper war von Wunden und Kratzern übersät. Er konnte nicht sprechen, sein Blick war wild, sein Verhalten tierähnlich. Niemand wusste, wer er war oder woher er kam. Die Jäger tauften ihn Haris Pućurica, doch sein wahres Schicksal blieb ein Rätsel.
Ein Junge ohne Vergangenheit
Wie war Haris in den Wald gekommen? Hatte er sich als kleines Kind verirrt und war von seinen Eltern unbemerkt verschwunden? War er absichtlich ausgesetzt worden? Oder war er vielleicht der einzige Überlebende eines tragischen Unfalls? Es gibt keine sicheren Antworten, nur Spekulationen. Sicher ist nur, dass er von den Wölfen nicht nur geduldet, sondern offenbar aufgezogen wurde. Sie lehrten ihn, sich zu bewegen, zu jagen und zu überleben.
Ein Leben zwischen Mensch und Tier
Nach seiner Entdeckung wurde Haris in das Zentrale Heim für Kinder und Jugendliche in Belgrad gebracht, wo er vier Jahre lang untergebracht war. Doch die Integration in die Gesellschaft war für ihn eine enorme Herausforderung. Während er keine Angst vor Menschen hatte, fürchtete er sich vor Technologie, Lichtquellen und ungewohnten Geräuschen. Gekochte Speisen lehnte er ab, stattdessen aß er lieber vom Boden oder aus dem Müll. Hygiene war ihm fremd, oft zog er sich in dunkle Ecken zurück oder kauerte unter Tischen.
Mit großer Geduld und Mühe gelang es den Betreuern, ihn schrittweise an die menschliche Zivilisation zu gewöhnen. Nach und nach lernte er, zu sprechen, und begann schließlich, lesen und schreiben zu üben. Trotz seiner Schwierigkeiten fand er Anschluss an andere Kinder, die ihn unterstützten und ihm halfen, sich zurechtzufinden.
Der Ruf der Wildnis
Mit 18 Jahren musste Haris das Heim verlassen. Doch anstatt in der Stadt zu bleiben, entschied er sich, dorthin zurückzukehren, wo alles begonnen hatte: in den Wald. Von Belgrad aus reiste er nach Sarajevo, von dort weiter bis zum Ort seiner Kindheit. Die Bergrettung begleitete ihn auf seinem letzten Stück des Weges und stellte ihm Nahrung, Kleidung und eine kleine Holzhütte zur Verfügung, in der er Schutz finden konnte.
Doch nach seiner Rückkehr in die Wildnis wurde er nie wieder gesehen. Niemand weiß genau, was mit ihm geschah. Einige sagen, er sei von einem Bären getötet worden, andere glauben, dass er einfach in der unendlichen Weite der Wälder verschwunden ist. Vielleicht lebt er noch heute unter den Wölfen, seine wahre Familie, und streift als Geist der Wildnis durch die Schatten der Bäume.
Ein Vermächtnis in Filmform
Das mysteriöse Leben von Haris Pućurica inspirierte den Regisseur Vuk Ršumović zu dem Film Nobody’s Child, der seine außergewöhnliche Geschichte auf die Leinwand brachte.
Ob er heute noch lebt oder nicht, bleibt unbekannt. Doch sein Schicksal fasziniert weiterhin Menschen auf der ganzen Welt. Der Junge, der von Wölfen erzogen wurde, kehrte letztendlich zu ihnen zurück – in die Welt, die ihn einst aufgenommen hatte. Vielleicht tanzt er noch immer mit den Wölfen, in einem Leben zwischen Mythos und Realität.