Forschende untersuchen das Käseparadox: Warum wir Tiere lieben und trotzdem Milchprodukte essen

Viele Menschen finden Kälbchen niedlich. Dass bei Milchrassen männliche Tiere oft nur wenige Wochen nach der Geburt getötet werden, verdrängen einige lieber, wenn sie Milchprodukte essen. Das liegt auch daran, dass der Verzicht auf Tierisches schwer gemacht wird
Viele von uns verzichten dem Tierwohl zuliebe auf Fleisch und greifen trotzdem zu Milch, Käse und Eiern. Aber warum eigentlich? Schließlich dürfte den meisten bewusst sein, dass für deren Herstellung auch Tiere leiden. Zwei Forscherinnen haben in einer Pilotstudie erstmals mögliche Gründe analysiert

Vielleicht haben Sie schon einmal vom „Fleischparadox“ gehört. Das bezeichnet das ethische Dilemma, dass wir Kühe, Schweine, Hühner essen, obwohl wir Hunde, Katzen, Wellensittiche oder Tiere im Allgemeinen lieben. Fachleute sprechen auch von kognitiver Dissonanz, wenn die eigenen ethischen Grundsätze nicht mit dem eigenen Handeln übereinstimmen und daraus ein gewisses Unbehagen entsteht.

Die Gründe, mit denen Menschen gegenüber sich selbst und anderen rechtfertigen, warum sie trotz Tierliebe Fleisch verzehren, sind bereits vielfach erforscht. Zu den wichtigsten zählen Verharmlosung („die Tiere hatten doch ein schönes Leben“) und Schuldzuweisung an andere, die Zwang ausübten und es schwer machten, auf Fleisch zu verzichten.

Das Käseparadox ist sogar noch paradoxer als das Fleischparadox

Neuerdings gerät auch das Käseparadox in den Blick der Forschung. Also die Frage, warum wir tierische Produkte wie Milch und Eier verzehren, obwohl wir doch eigentlich um die elenden Zustände in der Massentierhaltung und die Entsorgung, sprich Tötung, „überflüssiger“ männlicher Kälber und Küken wissen.

 

Bei genauer Betrachtung ist das Käseparadox sogar noch paradoxer als das Fleischparadox. Zumindest in Bezug auf jenen Teil der mehr als acht Millionen vegetarisch lebenden Menschen hierzulande (Statista), die gerade wegen des Tierwohls auf Fleisch verzichten, aber weiterhin Eier und Milch verzehren. Dem stehen knapp 1,5 Millionen vegan lebende Menschen in Deutschland gegenüber, die Tierisches nahezu komplett meiden.

Erzeugt der Konsum von Milch und Ei Gewissenskonflikte?

Die Forscherinnen Devon Docherty und Carol Jasper von der University of Stirling in Schottland sind der Sache nachgegangen. Sie haben in einer qualitativen Befragung ermittelt, inwiefern vegetarisch lebende Menschen den Verzehr tierischer Lebensmittel problematisch finden und wie sie ihn dennoch mit ihrem Gewissen vereinbaren.

Gleich zu Anfang machen die Autorinnen transparent, dass sie früher selbst Fleisch gegessen hätten, aber aus ethischer Überzeugung inzwischen vegan leben. Ihnen sei klar, welche Schwierigkeiten der völlige Verzicht auf tierische Lebensmittel mit sich bringt.

 

Für ihre Studie interviewten die Forscherinnen zwölf junge Menschen um die 20 Jahre mit Schul- oder Universitätsabschluss und unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, die sich seit mehr als sechs Monaten vegetarisch ernährten. Die Studie ist damit nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Die Hälfte der Befragten gab an, in erster Linie aus Umweltschutzgründen auf Fleisch zu verzichten, Ethik spielte aber auch für sie eine Rolle. Die Ergebnisse erschienen in der Fachzeitschrift „Appetite“.

Alle Befragten spüren eine mehr oder weniger ausgeprägte kognitive Dissonanz

Trotz ihrer geringen Größe und der eingeschränkten Auswahl ist die Studie wegen der zugrundeliegenden ausführlichen Interviews interessant. Es ist die erste, die derart tiefe Einblicke in die ethischen Dilemmata und Bewältigungsmechanismen von (einzelnen) Vegetariern gibt. Wer mit seinen Essgewohnheiten hadert, findet sich hier womöglich wieder und die Ergebnisse könnten helfen, die eigenen Gefühle und Gedanken zu sortieren.

Die Befragten in der Studie sagten alle, dass ihnen mehr oder weniger klar sei, dass auch für die Herstellung von Milch und Eiern letztlich Tiere getötet würden und dass sie das vor moralische Probleme stelle. Eine Befragte fand sogar, Milchprodukte zu essen sei noch schlimmer als Fleisch: „Ich fange an zu verstehen, wie grausam die Milchbetriebe sind, wenn sie die Mütter von ihren Kälbern trennen müssen, und dass das schlimmer ist, als manchmal einfach ein Leben zu beenden.“ Zwei Teilnehmerinnen bezeichneten sich selbst als „Heuchlerinnen“. Die Autorinnen sehen darin eindeutige Anzeichen für eine kognitive Dissonanz. Diese war allerdings längst nicht bei jeder und jedem gleich stark ausgeprägt.

 

Dennoch stellt sich die Frage, warum die Betroffenen ihre kognitive Dissonanz nicht auflösten, indem sie tierische Produkte gänzlich vermieden? Wie die Studie zeigt, dachten einige sogar über einen weitgehenden Verzicht nach, aber letztlich sprachen gute Gründe dagegen.

Für den Konsum tierischer Lebensmittel waren im Wesentlichen vier Gründe ausschlaggebend

Zum einen wurden gesundheitliche Gründe genannt. Vor allem Eier wurden wegen des hohen Gehalts an Eiweiß und Mikronährstoffen als gesund und notwendig wahrgenommen, um den täglichen Proteinbedarf zu decken. Milch und Joghurt wurden als unterschiedlich gesund eingeschätzt. Ein Teilnehmer sagte, er habe in der Schule gelernt, dass in Milch „alles drin“ sei, was der Körper braucht. Dementsprechend unsicher waren die Befragten, wie sie ihren Nährstoffbedarf mit rein pflanzlichen Lebensmitteln decken sollten. Die meisten ersetzten Fleisch als Eiweißquelle einfach durch Milchprodukte oder Eier.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist Bequemlichkeit. Zum einen die Bequemlichkeit, sich nicht näher mit Ernährung auseinandersetzten zu müssen oder zu können, sondern einfach ein tierisches Lebensmittel gegen ein anderes einzutauschen. Und zum anderen die Schwierigkeit, außer Haus vernünftige Mahlzeiten zu bekommen, die nicht in irgendeiner Form Tierisches beinhalten. Eine Teilnehmerin etwa klagte: „Meistens gibt es nur Falafel und Hummus oder Hummus und Falafel.“ Andere gaben an, dass es unterwegs schlicht gar keine veganen Angebote gebe und sie dann gezwungen seien, vegetarisch zu essen.

 

Pflanzliche Alternativen einkaufen und zubereiten? Gar nicht so einfach

Auch der vegane Einkauf und die Zubereitung zu Hause gestalteten sich für manche schwierig. Ein Teilnehmer sagte, dass er immer zum Kiosk in der Nähe gehe, um „normale Milch“ zu kaufen. Für Sojamilch müsste er extra zum Supermarkt laufen, ein Weg von 15 Minuten. Ein anderer gab an, dass er sich morgens vor der Arbeit einfach ein paar Eier in die Pfanne haue und keine Lust habe, „Jahre“ mit der Zubereitung einer veganen Mahlzeit zuzubringen. Auch kosteten vegane Alternativen oft mehr.

 

Als dritter Grund wurde der Geschmack genannt. Vor allem Käse wurde allseits als alternativlos geschätzt. „Ich würde gern veganen Käse essen, aber er schmeckt einfach furchtbar […] Manche Dinge kann man einfach nicht ersetzen“, meinte ein Teilnehmer. Ein anderer sagte, auf seiner Arbeit stünden zwar mittags vegane Sandwiches zur Auswahl, aber sie schmeckten „scheußlich“. Käse ist für viele Teilnehmende offenbar auch geschmacklich ein herzhafter Fleischersatz, auf den sie nicht verzichten mögen. Einer sagte sogar, Käse mache so „süchtig“ wie Crack.

 

Veganern droht der soziale Ausschluss – Vegetarismus ist ein Kompromiss

Ein vierter Grund ist die Zugehörigkeit. Wer auf Tierisches verzichtet, wird von Freunden und Familienangehörigen oft misstrauisch beäugt. „Wenn man aufwächst, sagen einem die Eltern ständig, dass man Gemüse essen soll […]. Aber sobald du deinen Eltern und deiner Familie erzählst, dass du […] nur noch Grünzeug isst, rasten viele von ihnen aus“, stellte ein Teilnehmer fest.

Eine Frau beklagte sich, Freunde hätten ihr nur noch demonstrativ Reis vorgesetzt, als sie eine Zeit lang versuchte, Tierisches komplett zu meiden. Weitere Teilnehmerinnen trauten sich nicht, ihre Fleisch essenden Freunde beim gemeinsamen Kochen zu bitten, neben Fleisch auch noch Milchprodukte und Eier wegzulassen.

 

Nur auf Fleisch zu verzichten sei für die Teilnehmenden ein Kompromiss, um die als bedrohlich wahrgenommene soziale Stigmatisierung von Veganern zu umgehen und den sozialen Frieden zu wahren, schreiben die Autorinnen. Immerhin sei Vegetarismus inzwischen deutlich akzeptierter als früher. Zudem gaben einige Teilnehmende an, Gespräche über Ernährungsethik zu vermeiden. Offenbar ist in vielen Situationen das Gefühl, ansonsten nicht dazuzugehören ausschlaggebend dafür, auch dann tierische Produkte zu essen, wenn man es eigentlich nicht möchte.

 

Milch erscheint vielen verwerflicher als Käse

All das sind nachvollziehbare Gründe, nicht komplett auf tierische Lebensmittel zu verzichten, auch wenn dadurch eine kognitive Dissonanz zu den eigenen Tierwohlansprüchen entstehen kann. Doch wie gehen die Teilnehmenden mit dieser Dissonanz im Alltag um?

Eine Strategie ist, nur tierische Produkte zu essen, denen man ihre Herkunft nicht mehr ansieht. Interessanterweise gaben viele der Befragten an, größere ethische Probleme mit Milch als mit Käse zu haben. Denn Milch sehe noch genauso aus und schmecke so, wie sie aus dem Euter kommt. Käse hingegen sei so stark verarbeitet, dass man ihm seine Herkunft geschmacklich und optisch nicht mehr anmerke. Gleiches gelte für stark verarbeitete Lebensmittel wie Süßigkeiten, die Milchpulver oder sogar Gelatine enthalten. Der Verzehr fühle sich dann nicht mehr ganz so verwerflich an. Das könnte eventuell erklären, warum der Milchkonsum in westlichen Ländern zuletzt rückläufig war, während der Käseverzehr angestiegen ist, schreiben die Autorinnen.

Des Weiteren zeigten die Befragten zum Teil einen „confirmation bias“. Sie konzentrierten sich mehr auf Informationen, die bestätigten, dass es den Tieren schon irgendwie gut gehe, und mieden zum Beispiel Reportagen über das Elend in den Schlachthöfen. Andere gaben zu, dass sie die Vorstellung, wie es den Tieren ergeht, verdrängen, oder sagten, es sei ohnehin praktisch unmöglich, auf sämtliche tierischen Produkte zu verzichten. Einige fanden auch, dass durch ihren Fleischverzicht bereits weniger Tiere zu Tode kämen, und sie somit im Rahmen ihrer Möglichkeiten schon ausreichend für das Tierwohl getan hätten.

 

Vegetarier argumentieren ähnlich wie Fleischesser – mit einer Ausnahme

Damit decken sich die Motivationen und Begründungen im Wesentlichen mit denen von Menschen, die Fleisch essen. Mit einer Ausnahme: Dass es „natürlich“ sei, Milch und Käse zu essen, führte niemand als Grund an. Damit fehlt eines der Argumente, die Fleischessende häufig für ihren Konsum heranziehen. Obwohl der Verzehr von Milch und Eiern eine lange Tradition hat, glaubte von den Befragten niemand, dass dies natürlich sei.

Die Autorinnen sind sich bewusst, dass ihre Studie nicht repräsentativ ist, und sehen weiteren Forschungsbedarf. Ihre Ergebnisse deuten schon jetzt darauf hin, dass einige vegetarisch lebende Menschen sich öfter für pflanzliche Alternativen entscheiden würden, wenn Veganismus sozial akzeptierter wäre und es ein entsprechendes Angebot an schmackhaften Alternativen gäbe. Als größtes Hindernis hat sich Käse herauskristallisiert, der vielen wiederum als Fleischersatz dient. Hierfür gibt es in Konsistenz und Geschmack noch keine befriedigende Alternative.

 

Wir sollten die Liebe teilen
  
          

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